Meldungen des Jahres 2021

Meldung vom 04. September 2024

George Orwell und kein Ende? Und bald in einem dokumentarischen Computerspiel

In der Vergangenheit habe ich manchmal mitunter etwas scherzhaft darüber geäußert, dass mich George Orwell und sein weltbekannter utopischer Roman „1984“ seit dem Jahre 1958 stets begleiten würden, dass ich das Gefühl hätte, nicht mehr von ihnen loszukommen. Während der bedrückenden, bis zu seelisch qualvollen Tagen, hinter Gittern des sächsischen Gefängnisses Waldheim, die sich erschreckend langsam, zu zwei Jahren zusammenfügten, waren sie insgeheim bei. Kein Sterbenswörtchen durfte ich über sie verlieren, um mir keinen „Nachschlag“* einzuhandeln. Und schließlich – vor nunmehr 32 Jahren – hätte ich mir vorstellen können, zu träumen, dass mir Orwell eine Hand auf die Schulter legen und mir zuflüstern würde, nun, da in der DDR die Herrschaft der „Großen Brüder“ überwunden sei, nicht in einer Art Genugtuung zu verharren, sondern etwas zu tun, das in seinem Sinne wäre. So ging ich daran, in Stasi-Akten zu recherchieren, nicht nur in meinen eigenen, sondern (auf der Grundlage privater Forschungsarbeiten) auch in denen unzähliger anderer Opfer der DDR-Gedankenpolizei, von lediglich Bespitzelten bis hin zu jenen, denen es so oder so ähnlich ergangen war wie mir. Es war nicht immer leicht, sich zu bemühen, möglichst objektiv zu bleiben. Von unzähligen Schicksalen erfuhr ich nicht nur dadurch, sondern auch als eingetragenes und korrespondierendes Mitglied von Verbänden ehemaliger politischer Häftlinge der sowjetischen Militäradministration in der SBZ und der SED-Diktatur.
Deren Anzahl wird auf zirka 250 000 Frauen und Männer geschätzt. Mir wurde durch die Kenntnis einzelner Biografien bewusst, dass bei all dem, das ich erlebte, die Redewendung „Glück im Unglück“ gehabt zu haben, durchaus etwas auf mich zutreffen könnte. Selbst wegen der Strafe von „nur“ drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus, wurde ich von manchem anderen politischen Knastkameraden in Waldheim belächelt. Es war aber niemals diskriminierend gemeint, wie ich fühlte.
Nach 1990 könnte mir abermals Orwell im Traum erschienen sein, um konkreter zu werden. „Gehe mit deinen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit!“ , könnte er zu mir gesagt haben. Ich folgte seinem Rat und hatte es dabei denkbar einfach. Dank seines Bekanntheitsgrades als Mahner vor jeglicher Art von Totalitarismus, angefangen beim Denken bis zum Machtausüben, waren seine beiden Bücher „1984“ und „Farm der Tiere“ aktueller denn je. Das gesamte „sozialistische Lager“ unter Führung der „ruhmreichen Sowjetunion“ war am Zusammenbrechen. Bestimmte Teile der Öffentlichkeit, der Gesellschaft und Medien, interessierten sich für Menschen, die sich mit Orwells „antisozialistischen Machwerken“ beschäftigt hatten. So war es für mich ein Leichtes, meine Geschichte mit Orwell und „1984“ unter die Leute zu bringen, unter anderem durch Publikationen und Vorträge. Aber auch Privatpersonen traten an mich heran mit Bitten, meine Orwell-Geschichte für ihre akademischen Vorhaben verwenden zu dürfen. Gern gab ich in jedem Fall meine Zustimmung. Sogar ein USA-Bürger interviewte mich persönlich. Er schrieb an seiner Dissertation. George wurde für mich so etwas wie ein imaginärer literarischer Freund, mit dem ich inzwischen in Gedenkstätten, Museen und dergleichen in Erscheinung trete. Auf dem am 17. Juni 2010 in Jena eingeweihten Denkmal für die Opfer politischer Verfolgung in der SBZ/DDR von 1945 bis 1989, bin ich mit ihm – wenn auch nicht gerade „verewigt“ – so doch für wohl lange Zeit präsent.
Ebenso zutreffend könnte dies für ein dokumentarisches Videospiel sein, das zurzeit durch die Ausstellungsagentur Musealis aus Weimar erarbeitet wird, im Rahmen des Bundesprogramms „Jugend erinnert". Unter dem Titel "Wir leben hier – Tage in der DDR“. Ich habe mich bereiterklärt, als Zeitzeuge dabei mitzuwirken, wobei ein Tag aus meiner Beschäftigung mit Orwells Roman „1984“ in drei Szenen gespielt werden kann. Nach jeder Szene wird man einen Kommentar von mir einblenden können. Die Filmaufnahmen dazu wurden bereits erstellt. Dabei war es erforderlich, schriftlich zu bestätigen, dass ich damit einverstanden bin, dass diese einmal weltweit abgerufen werden können. George würde staunen, wenn er erfahren könnte, wie weit die Technik in einem reichlichen halben Jahrhundert fortgeschritten ist. Er lässt mich eben nicht los. Und das gefällt mir! Vielleicht sehen wir uns einmal in einer anderen Welt.

 

*„Nachschlag“ = Bezeichnung des Gefängnisjargons für einen Strafgefangenen, der erneut wegen einer in der Haft begangenen Straftat angeklagt und verurteilt wurde. In der DDR waren vor allem politische Häftlinge derartigen Maßnahmen ausgesetzt. Sich als Zellenspitzel zu betätigen, war für gewissenlose Mitgefangene eine willkommene Möglichkeit, vorzeitig entlassen zu werden. Ich kannte selbst Haftkameraden mit „Nachschlag“.

 

Baldur Haase
im Dezember 2021

 
 
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